ZeichnenLernen Einführung

Dienstag, 8. November 2011

Körperplastik. J.Meder

I. Körperplastik.
ALLGEMEINES. 
Umriß
    Jede zeichnerische Funktion suchte zuerst Formgrenzen und dann Flächenbildung. Nach einer gewissen Entwicklung wirkten beide zusammen, dem Körper Umriß und Rundung verleihend; indes gab es wiederkehrende Perioden, wo die erstere sich selbst genügte, dann wieder  Übergänge, wo die zweite allein bestehen zu können glaubte. Die den Kontur gestaltende Linie erscheint, ihrer Entwicklung entsprechend,
1. als unentwickelt, weil ohne Formverständnis, empfindungslos, hart, aber unbefangen;
2. als vollendet, der klarsten Formvorstellung entsprungen, von Phantasie und Empfindung
    geleitet und von geschulten Augen und Händen geführt;
3. entwickelt, aber leer, weil nur auf freiwilliger (gesuchter) oder unfreiwilliger Nachahmung
    beruhend. Übergänge von einer Ausdrucksweise zur andern finden sich im Werdegang des 
    Einzelnen sowie ganzer Perioden.
Rundung.
   Die plastische Flächenbildung unterliegt einzig dem Gesetze der Lichtwirkung, die bald
schematisch einseitig, bald im Sinne malerischer Absichten mit allerlei Gegensätzen, 
Helldunkeleffekten und Reflexen auftritt. Für die erste Art reichte das einfache Verstärken der Schattenseite, das lineare Schattieren, parallel oder übereinander gelegt, vollkommen aus; dagegen erforderte die zweite die Mithilfe des flächig gestaltenden Pinsels. Nach diesen hier vereinfacht formulierten Gesichtspunkten vollzog sich das durch Jahrhunderte stets neu erlebte Erschauen alles Körperlichen und das nie ermüdende Versuchen, dasselbe immer wieder anders auszudrücken.

Die Skulptur als Lehrerin.
   Von den bereits erwähnten paläologischen Zeichnungen abgesehen, betätigte sich noch zur Zeit einer schon entwickelten Kunst eine Art graphische Skulptur, ein lineares Formbilden in harter Fläche, auf Sand- oder Kalksteinplatten. Um die mit der notwendigsten Innengliederung versehenen Figuren weithin sichtbar zu machen, vertiefte man alle Hauptkonturen derart, dass sie in der Tagesbeleuchtung von selbst Licht- und Schattenseiten ergaben. Verstärkt wurde die
Wirkung, als man die umrissene Fläche noch mit Erdfarben bemalte. Diese rein bildhauerische Erfahrung wiederholte sich, indem man in nachahmender Weise festkonturierte Figuren mit Farben auf der Wand, auf Tafeln oder Pergament zeichnete und flächig anlegte. Bei etwas Innenzeichnung traten diese formbildenden Silhouetten aus dem leeren Hintergründe und regten die Phantasie des damaligen Beschauers vielleicht besser an als jene mit dem Meißel
gegrabenen Gestalten. Kam das Runde auch noch nicht zur Geltung, so wirkte der farbig
zusammengefaßte strenge Kontur unter Heranziehung charakteristischer Behelfe, wie
Profilstellung, typisches Anbringen beider Arme, sowie des leeren, gegensätzlichen Hinter-
grundes bereits Raum andeutend.
Auch die nächste zeichnerische Stufe, die Andeutung des Runden selbst, bedeutete in der Flächendarstellung nichts anderes als eine graphische Nachahmung der weiteren Entwicklung der Tief- und Flachreliefs. So wie dieselben zunächst durch ein rundendes Herausschaben der Steinfläche innerhalb der Umrisse (Abb. 265. Bemaltes ägyptisches Tiefrelief.) oder gar durch Beseitigung aller die Figur außerhalb
umschließenden Schichten zu einer Licht- und Schattenseiten enthaltenden, also flachplastischen Erscheinung umgewandelt wurden, so ahmte man diese äußeren Kenn-
zeichen in der Malerei auf einfacherem Wege in der Weise nach, daß man die Konturen mit derselben Farbe schattenseitig verstärkte und später die Lichtseite durch einen hellen Streifen andeutete. Und wie man im Relief Handlungen durch Aneinanderreihen agierender Profilfiguren zur Darstellung brachte, so stellte man mit dem Pinsel auch an den Wänden der
Tempel und Grabkammern Silhouettenreihen auf mit gleicher Andeutung flacher Körperwirkung nach Art der Kalksteingebilde. Man war in dem Bestreben, das langwierige Bearbeiten großer Steinflächen zu ersparen, erfinderisch geworden und ließ in Innenräumen die handsamere Malerei immer mehr an die Stelle der Skulptur treten.
   Dieser ökonomische Gewinn bedeutete gleichzeitig einen fundamentalen Fortschritt der Malerei selbst, und welche Vervollkommnung das Skulpturrelief auch immer erhielt, sie nahm notgedrungen an dessen Entwicklungsstufen teil. Die Schichtenkompositionen in Zeichnung und Bild während des 14. und 15. Jahrhunderts stehen noch unter derartigen Einflüssen und nicht minder die auf die Sflhouette herausgearbeitete Einzelfigur. Selbst die Vollplastik in ihrer Vollendung blieb noch vielfach eine sichere Führerin ihrer Schwesterkunst. Die Form sieht und erkennt nur der am besten, der sie von allen Seiten mit hellen Augen erfassen muß. Kaum hätte die Flächenkunst allein den überzeugenden, sinnlichen Eindruck, die Greifbarkeit des Dargestellten errungen. Von diesem Gesichtspunkte aus eröffnen sich Einblicke in das Dunkel, aus dem die Zeichnung in die Erscheinung trat, und ebenso in ihre weiteren Bahnen, als sie den Körper als Körper darzustellen suchte. als sie vom Räume Besitz ergriff und Figur und Hintergrund in ein räumliches Verhältnis zu bringen hatte.

Werkstattpraxis.
In jener Zeit, in welcher die Entwicklung der Zeichnung für uns sichtbar einsetzt, erscheinen Gruppen oder Einzelfiguren gleich denen in Illustrationen heiliger oder profaner Bücher als dünne, kümmerliche Federrisse (Abb. 100). Uralte Tradition und Praxis gingen Hand in Hand; Malbücher verzeichnen allerlei Winke, das Wichtigste aber gab die Werkstatt. Das noch byzantinischen Geist atmende Buch vom Berge Athos unterscheidet zwar Belichtung und
Schattierung, aber nur schemenhaft. Das Schattieren bestand in dem «Verschwächen» der Umrißlinie in der Farbe des Innentones, doch dunkler und längs der Schattenseite.(§ 22, 25. Vcrschwächen soviel wie Verlaufen lassen.) Die hervortretenden Stellen wurden mit einer helleren
Grundfarbe belichtet. So wuchs Mittelton, Licht und Schatten aus einer Farbe heraus, sachlich richtig, in der Wirkung flach.

Giotto
Giotto eröffnete den Kampf gegen die wesenlosen, handwerksmäßigen Gestalten byzantinischer Tradition und suchte mit neuen Mitteln nach Körperlichkeit. Seine Köpfe und langgezogenen Gewänder mußten eine gute zeichnerische Vorbereitung erfahren haben, und zwar auf dem Wege des Chiaroscuro. Onninis Bericht über des Meisters Kunstweise unterscheidet "gli scuri, mezzi e biachetti": «Du hast die Schatten mit Tintenlavierung zu machen, den Fapierton als Mittelton gelten zu lassen und die Lichter mit Bleiweiß herzustellen.» Die Trennung der zahlreichen Gestalten voneinander als vom Räume erfolgte durch plastische Verschiedenfarbigkeit. In der Raumperspektive erscheinen zwar die Figuren des Hintergrundes bereits kleiner, aber noch in der Tonstärke der Vordergrundstaffage. Die Fluchtlinien sind noch nicht zusammengefaßt, sie streben diffus auseinander und stören die Einheitlichkeit des Raumes (Abb. 266).(Abb. 266. Lorenzetti. Kompositionsskizze mit perspektivischen Versuchen.) Vergleiche hier das Gemach und das Bett.

 Renaissance.
Erst die Renaissance baute langsam, aber sicher, teils der Antike, teils der
Natur folgend, neue Gesetze der Rilievobehandlung auf, die sich in Zeichnungen und Gemälden deutlich erkennen und verfolgen lassen. Die gleichzeitige Tätigkeit vieler Künstler alsBildhauer, Maler und Goldschmiede griff fördernd ein und schuf möglichst vollplastische Ausdrucksweisen für Feder, Stift und Pinsel. Gerade im kleinen auf einem Stück Papier gab man sich vor der Natur leicht Rechenschaft über Körpergrenzen, Flächenbewegung, Licht- und Schattenverlauf, Trennung vom Hintergrund. Namentlich zur richtigen Erfassung der Licht- und Schattengrenzen hatte schon Alberti empfohlen, die runden Körper in einzelne Flächen zu zerlegen (S. 108).
Noch im Anfange des 16. Jahrhunderts finden sich solche Spuren, wie uns eine Zeichnung aus dem Budapester Architekturbuche belehrt. Man gliederte hauptsächlich die Oberfläche des Menschen, insbesondere des Kopfes, in bildhauermäßig zugeschnittene Grundformen und
qualifizierte dann das Runde vom Standpunkte einer bestimmten Lichtquelle.

 Leonardo.
Zeichentechnisch eingehender verbreitet sich Leonardo im 5. Teile seines Trattatos De ombra e lume durch 277 Paragraphen über alle großen und kleinen Fragen. Wiewohl er noch von dem Cartetintezeichnen ausging, bedeutete dessen Anwendung für ihn und seine Zeitgenossen doch ein anderes, weil es modernen Errungenschaften des Sehens und organischen Darstellens zu dienen hatte. Es war nicht mehr ein schematisches Schattieren, sondern ein strenges Beobachten, man trat vor die Natur und versuchte das Stoffliche zu überwinden. Verrocchios und seiner Schüler Kopf-,Hände- und Aktstudien auf grundierten Papieren stehen alle im Zeichen des erwachten Naturalismus, des genießenden Formerschauens. Wir fühlen heute noch die Freude nach, mit der der Quattrocentist nach peinlich durchstudierter Schattengebung seine Lichter aufsetzte. Erst mit der Biacca sprang vor seinen Augen die Rundung aus der Fläche. In der Durchbildung der Plastik (rilevato in buona forma) lag der
Wert und die Vollkommenheit einer Teilstudie.

Barocke.
Schon im folgenden Jahrhundert änderten sich abermals die Anschauungen. Waren vorher, wie man nicht besonders glücklich zu sagen pflegt, aus Sehwerten Tastwerte gebildet worden, welche für die in Flächenschichten schaffende Renaissance ausreichten, so stand in der weiteren plastischen Entwicklung noch als letzte Aufgabe die Auffindung und Ausnützung aller Tiefenwerte bevor, die innige Verbindung von Figur und Raum. Waren für die Erfassung der organisch dargestellten Körperform Proportion und Anatomie eine Hauptforderung, so übernahmen hier die Raum- und Lichtperspektive die Führung. Die Renaissance kannte den Raum nur im Sinne von Raumschönheit, in der dekorativen Übereinstimmung aller Teile (Figur und Architektur) innerhalb der Fläche, tatsächliche Raumgestaltung suchte erst die Barocke. Die Darstellungen vieler Quattrocentokünstler glichen nur einer wie in einem Glaskasten wohl überlegten Aufstellung schön drapierter Figuren vor separat aufgeführten Kulissen und jene der Barocke, wenn man den groben Vergleich zu Ende führen darf, dem Zustand einer durcheinander geworfenen und geschobenen Figurenmasse. Es war unter allen Umständen ein mächtiger Ruck, der in die Komposition fuhr. Übergangserscheinungen hatten sich schon
lange gezeigt; man löste die streng proportional gegliederte Rückwand, durchbrach deren Vertikal- und Horizontalgefüge, suchte innerhalb der Gehäuse durch Scheinerweiterung der Wände und Decken, durch Ausschnitte, Ausblicke, Theaterarchitekturen, Plafondhimmel nach einer Raumweite, so wie sie in den Landhäusern bereits die Prospektmaler erkünstelt hatten. Und als man eines Tages auch die Rückwand diagonal bildeinwärts schob, verschwand auch
die symmetrisch- statuarische Aufstellung des Figuralen von selbst und es trat ein Anordnen von vorn nach rückwärts an deren Stelle. Der Drang in die Tiefe erstarkte durch die gegenseitige Bindung lebendig agierender Gestalten. In der Überschneidung des fernen Kleineren durch das nahe Große suchte man wirksame Tiefenstufen. Schon die massigen Umrahmungen stellten sich auf dieses Prinzip ein (Stuckrahmen, Muschelwerk, mächtige Profile). Die Lichtführung folgte dem Zuge des Figuralen gleichfalls schräg bildeinwärts.

Landschaft. 
Eine selbständige Richtung, d. h. ohne figurale Mitwirkung, nahm die Eroberung der Räumlichkeit in der Landschaft. Schritt für Schritt bahnte sich das Studium in freier Natur den Weg in die Weite und Ferne, wenn auch nach gleichen Gesetzen, wie sie die Bildkomposition eingeführt hatte, so doch unter der Vorherrschaft der Zaubermittel einer immer mehr und mehr erstarkenden Lichtführung.
Es ist ein genußreiches Überschauen, wie durch Jahrhunderte das so vielgestaltige und problemreiche Thema der Körper- und Raumgestaltung allseitig rüstig in Angriff genommen wurde, wie sich der harte, am Hintergrunde klebende Formkontur lockerte, Leben und Bewegung erhielt, wie sich das Figurale des Raumes bemächtigte und eines Tages in wirbelnder Kraft siegreich in die Wolken schwang.


A. Schattierung.


Primitive Vorstufen.
Umriß.
Die graphische Urform ist die Umrißzeichnung. Sie erscheint in den frühesten Versuchen, in den Entwicklungsjahren christlicher Kunst, im weitere Verlaufe bei bestimmten Meistern, um in der Klassizisten- und Nazarenerzeit nochmals vorübergehend aufzukommen. Eine andauernde Rolle spielt sie in der Skulptur, in den dekorativen Zweigen der Kunst und in der Architektur
all` architettura massimamente). Selbst in ihrer ursprünglichsten, rein abstrakten Form, d. h. ohne jede Beziehung zum Hintergrunde, konnte sie eine flüchtige Innengliederung erfahren, um die Form aufzuklären und zu beleben.

Innengliederung.
Wie die aus dem Dämmerlicht paläolithischer Zeiten auftauchende Tierzeichnung belehrt, handelte es sich dem Naturzeichner um die notwendige Angabe der Merkmale (Abb. 1). Bedeuteten dieselben auch nur Kennzeichen und Formzeichen, so bewirkten sie doch gleichzeitig körperliche Vorstellungen. Gerade Tierdarstellungen erfreuten sich der schärfsten Charakteristik, während menschliche Gestalten in Skulptur und Zeichnung noch vergewaltigt oder unverstanden erschienen. Auf die heute mehr denn je aufgerollte Frage, ob jene frühen, auf Nachahmung der Natur beruhenden Darstellungen Kunstäußerungen bedeuten oder
nicht, kann hier nicht eingegangen werden.


Überschneidung.
Einen weiteren plastischen Fortschritt erlebte die Konturzeichnung in der Innengliederung durch das Überschneiden einzelner Teile, wodurch ein Vorn und Rückwärts angedeutet wurde. In der Mammut-Ritzzeichnung (Abb. 1) überdeckt zwar der Rüssel bereits den Körper und das rückwärtige Stoßhorn, dagegen durchschneidet sich das vordere mit dem Rüssel gegenseitig. DieDarstellung unterlag den technischen Schwierigkeiten. In der Nachbildung eines Vogels auf einer Schnabelkanne (Mykene) wird der überschneidende Flügel außerdem durch simple, das Gefieder bezeichnende Schattierungslinien verstärkt (Abb. 268).
In menschlichen Profilfiguren kreuzt der vorgestreckte Arm den Oberkörper; der zweite, infolge seiner dreidimensionalen Lage für jene Zeit das unangenehmste Plus, wurde, wenn zur Darstellung notwendig, in eine unnatürliche Enfacestellung gedrängt (Abb. 265). «Tiefenrelationen mußten nach Möglichkeit in Ebenenrelationen umgewandelt werden» (Worringer).

Ausfüllung der Konturen
Eine weit stärkere körperliche Wirkung erzeugte die Ausfüllung der Konturen durch einen gleichmäßig farbigen Ton. Die Figur, weithin sichtbar, tritt massig aus der leeren Fläche hervor, ein erster Versuch, das Körperliche als verstärkte Silhouette darzustellen und das Fächenhaft-Dunkle von dem lichteren Hintergrund abzuheben. Je größer der Gegensatz in bezug auf
Tonwert, desto stärker der plastische Eindruck. Auf Vasen der Stein- und Bronzezeit, in Zeichnungen wilder Völker erkennt man dieses immer aufs neue farbig variierte Prinzip, mit und ohne Innenzeichnung. In Ornamenten, Intarsien, Silhouetten - Spielereien verblieb diese primitive Regung körperhafter Erscheinung noch bis zum heutigen Tage.


Körperschattierung.
Die natürlichste Auslösung plastischen Empfindens erfolgte erst durch die längs der
rechten oder linken Konturhälfte hinzugefügten Schatten (Körperschatten), als einfachste
und sichtbarste Betonung des Greifbaren, des "Rilievo".  Bedeutete dieser Vorgang die erste
Stufe, so bildete die Einbeziehung auch aller einzelnen inneren Flächenneigungen und deren
Klarlegung durch dunkle Abgrenzung nach der Schattenseite hin eine Weiterführung. Die
Verstärkung der rechtsseitigen Konturen durch Verdoppelung oder Vervielfachung derselben (Abb. 296) können wir einerseits bis in die ägyptischen Malereien zurück, anderseits bis zur Renaissancekunst herauf verfolgen. Raffaels Silberstiftzeichnungen, z. B. der umbrischen Periode, halten sich noch an diese Vorschrift (Fischel, Taf. 18, 19). Die letzte Stufe, die harmonische Verbindung der Haupt- und Nebenschatten unter dem Gesichtspunkte einer ein-
heitlichen Lichtquelle, erfüllte sich erst durch ein jahrhundertlanges Studium ganzer Künstlergenerationen.


Pinselschattierung.
 Einen technischen Fortschritt bedeutete es, als die nun verdichtete Schattenseite noch mit verdünnter Tinte in leicht verstärkender Weise laviert wurde, um den Verlauf des Runden, unter steter Wahrung des laut sprechenden Konturs, anzudeuten. Und so wurden die Schattenflächen immer breiter und kräftiger, besonders als man mit gestutzten und halbtrockenen Pinseln arbeitete (Cennini, K. 10). Der Pinsel stellte überhaupt für Bild und Zeichnung das geeignetste Werkzeug jeder Körperschattierung, weil er die Flächen weich und reinlich zusammenzufassen vermochte.

Vertikalismus. 
Abgesehen von der Handhaltung, bequem von oben nach unten zu fahren, um ein gleichmäßiges Abfließen der Farbe zu erzielen, duldete auch der gotische Vertikalismus in den vielen Standfiguren, in den sich wiederholenden geradlinigen Gewandfalten und feinsäuligen
Architekturen kaum eine andere Richtung. Fördernd wirkte dieses Prinzip nicht, denn die Hauptbedingung jeder Schattengebung, daß sie allen Flächen folge, war dadurch nicht erfüllbar. Der Stil gestattete nur schematisch gedunkelte und erhellte Konturseiten und dazwischen die Mitteltöne (i mezzi) als Folge des Lasciare de campo proprio (Genn., K. 29).





Renaissance.
Mit der beginnenden Renaissance hörte die Vertikalbehandlung auf und an ihre Stelle trat die freihändige, rein der inneren Vorstellung folgende Lavierung (Abb. 148, 150). Der Bewegungsruck, der in die steifen Figuren gedrungen war, ermöglichte neue Flächenrichtungen. Aber trotzdem umfloß noch der kontinuierliche Kontur jede Gelenks- und Muskeläußerung und bildete in seinem feinfühligen Schwung für jeden einzelnen Künstler einen Glanzpunkt.
Im Übergang gab es noch vielfach Konflikte. Weil in den kleinen Einzelfiguren, Nacktkörpern und Bewegungsstudien der herausgearbeitete Umriß oft die Schattierung überwog, die noch a modo di un fumo vor sich ging, tadelte Alberti das gleichmäßige und starke Umfahren der Formen: «Zu kräftige Konturen bedeuten nicht ein Aufhören der Fläche, sondern nur einen Riß
(fessura) in derselben» (S. 100). Die formalen Erkenntnisse der Verrocchio-Gruppe gaben die Umrißklarheit zwar nicht auf, ordneten sie aber der inneren, jedem Faltenzug folgenden Schattengebung so unter, daß das Auge sie durch die Hingabe an die plastische Vollkommenheit des Ganzen gerne übersah(Abb. 194).

Florenz undVenedig.
Technische Neuerungen waren in Florenz vorübergehend schon bei Angelico, Benozzo und später in Oberitalien allgemein vorausgegangen, indem sich die Geschlossenheit vertikaler Schatten lockerte und verdünnte. Dieses sichtbare Nebeneinandersetzen kurzer Strichel sollte nur der breiter gewordenen Freskotechnik entsprechen (Abb. 21, 52). Allein die Anwendung eines bloß für große Flächen berechneten Prinzips hatte im kleinen Maßstabe, besonders auf lichter Folie, nur halbe Wirkung, eine zerrissene, schüttere Modellierung. Dieses namentlich in Venedig übliche Körpergestalten stand dem allzeit im bildhauerischen Sinne schaffenden Florentiner Brauch direkt entgegen, besonders auf dem Gebiete der Draperie, wo man spezielle Aufgaben anstrebte. Gerade hier machte man die feinen Beobachtungen, daß die Körperschatten der kleinsten Fläche folgen, daß sie nicht über und unter ihr, sondern in ihr liegen und Reflexlichter enthalten, kurz das wunderbare Spiel mit immer neuen Motiven
innerhalb einer Farbe entfalten. Und so wie man in Florenz nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Zeichnung die lebendigste Greifbaikeit anstrebte und erreichte, so verfiel im Venezianischen zu jener Zeit die zeichnerische Körperplastik einer ungewohnten Flachheit.



Flecken:Schattierung.
Setzt man Leonardos Draperiezeichnung um 1475, so erscheint es für die gärenden Probleme des Quattrocento bezeichnend, daß zu dieser Zeit auch bereits die letzte Stufe plastischer
Ausgestaltung, die impressionistische Fleckenwirkung anhub. Es waren die ersten Regungen einer neuen Sehnsucht sowie des erwachenden Kolorismus, der die scheinbar abgeschlos- senen  plastischen Doktrinen aufstörte. Der feinfühlige Leonardo, der eifrigste Formsucher, wehrte sich um die Errungenschaften seiner Zeit, warnte vor Überschätzung der Farbe, die nur dem Ehre bringe, der sie verfertige, den Maler aber gleich Schönrednern verführe, nichts-
sagende Worte zu gebrauchen. Noch energischer spricht er sich im folgenden aus: Wisse
aber, du Maler, der du unter der Firma eines Praktikus einen von der Nähe gesehenen Kopf mit einer harten und rohen Strichführung (con trateggiamenti aspri et crudi) darstellst, daß du dich irrst (§ 128).


Allein die Forderungen eines großen Kunstabschnittes waren erfüllt. In aufsteigender Linie hatte sich durch zwei Stilperioden die feinpinsclnde Schattierung an allen Körpern erprobt und erweitert, Gesetze und Erkenntnisse waren Allgemeingut geworden, der Zeichner konnte im Bewußtsein seiner Sicherheit stellenweise des Konturs entraten und tat es gerne. Die in (Gliedern und Gewandung unruhig gewordenen Körperformen erheischten ein neues rasches
kompositionelles Zusammenfassen, das sich in der Schattierung aussprach. Die erstehenden Skurzi vernichteten den wohlklingenden Kontur, schufen Überschneidungen, Unterbrechungen, die sich auf die Fläche erstreckten und eine andere Schattierungsweise erforderten. An die Stelle der vollendeten und bis zum Übermaß ausgeführten Form trat das Skizzenhafte, das zu allen Übergangszeiten auftaucht und in dem Suchen nach dem Neuen, in der ängstlichen
Vermeidung des Alten, in der Unsicherheit den Problemen gegenüber seine Ursachen hat. Und so führte das letzte Verfahren, die in wirkungsvollen Schattenflecken schaffende Lavierung, die dem plastischen Talente zu raschen Effekten verhalf, zur malerischen Erscheinung, die zur bewegten Körperform die Bewegung des Lichtes in hellen und dunklen Flecken gesellte. Körperschatten und Körperflächen gingen durch die flüchtige Behandlung wieder vielfach auseinander, darüber, darunter oder gar daneben.
Der Norden.
Die kontinentale Klosterkunst mochte wohl Trägerin aller subtilen Pinselschattierung nach dem Norden gewesen sein, denn wir finden sie zur gotischen Zeit in den Niederlanden wie in Deutschland, und namentlich auf dem Gebiete der Glasvisierung, bereits auf eine technische Höhe gebracht. Wir müssen auch annehmen, daß alle die verloren gegangenen Bildzeichnungen des 15. Jahrhunderts in Bayern und am Rhein mit Tusche in der Sfumato- Manier ausgeführt waren, wie es die wenigen Reste, z. B. des alten Holbein, auf weißen oder
grundierten Papieren deutlich bezeugen.


Glasrisse.
Und als die hohe Kunst des 16. Jahrhunderts mit ihren breitzeichnenden Mitteln sie abermals in die Glasmalerei zurückdrängte, erfuhr sie hier noch überreichliche, wenn auch oft nur handwerksmäßige Betätigung. Aber nicht immer herrschte der bedachte Vorgang, wie ihn eine unvollendete Zeichnung Dirick Vellerts erkennen läßt, daß die Konturen vorgepaust und sogar die Schattengrenzen vorpunktiert wurden (Abb. 269). ' Allein trotzdem ergeben diese deutschen, niederländischen und auch französischen Zeichnungen mitihren feinen Verlaufern und Drahtkonturen einen klaren Typus.2 Zwischen 1506 und 1508 vollzog sich auch in Deutschland der Umschwung zur neuen Schattierungsweise im Sinne aufgelöster Flächen. Dürer erlebte an sich die Bewegung, nur weniger oppositionell wie Leonardo, und ging mit seinem Papstmantelaquarell (L. M. 494) der neuen Zeit frisch voran.


Linienschattierung.
Weit anders waren die Wege für Feder und Stifte. Ihr Element, die Linie, konnte nur zur Fläche umgebildet werden, wenn sie sich die Erfahrungen des Spitzpinsels zunutze machte. Anderseits lag in ihrer Beschränkung der Keim zu einem geordneten Nachfühlen jeder Flächenrichtung, weil weder ein klecksendes Zusammenfließen noch ein wirres Durcheinander eine Schattenimpression hervorzurufen vermochten.

Zylinderprinzip.
Mit dem unermüdlichen Naturstudium, mit der konstanten Federübung kam die Erkenntnis, wie sich an der gangbarsten Grundform, dem Zylinder, die verschiedenen Strichrichtungen zu gesetzmäßigen Lagen entwickeln sollten. Hier hatten sich vom Beginne an mehrfach Vertikalen (Verstärkung des Schattenkonturs) als vorbildlich erwiesen (Abb. 270, Fig. 1), dann aber handsamer die Diagonalen, ein Zugeständnis an die bequemste Bewegung des Handgelenkes (Abb. 270, Fig. 2), und schließlich die Horizontalen, organisch zwar begründet (senkrecht auf die Achse), zeichentechnisch aber ungeläufig (Abb. 270,Fig. 3). Weil jedoch das Wesen aller Schattierung darin bestand, die Schattenfläche möglichst vollkommen mit der Körperfläche zu verschmelzen, versuchte man durch Verbindungen die Rundungen zu erreichen. Und so basieren alle mit der Feder oder dem Griffel (Kohle, Kreide,Rötel) ausgeführten Schattierungsmethoden auf diesen Prinzipien (Abb. 270, Fig. 1und 2, 2 und 3, 1 und 3, 1 und 2 und 3), Ob die gerade Linie den Körper abschattierte, oder die geschwungene, den Zylinder umfassende sich mit einem Zug um die Fläche legte, oder sich wie bei den
Deutschen in Häkchen und Netze auflöste (Abb. 270, Fig. Häkchen), die Absicht, den Schatten durchsichtig zu gestalten, blieb die gleiche; sie hatte sich nur dem jeweiligen nationalen und individuellen Formgefühl anzupassen. Auch technische Gründe, wie die gebundene Stichelführung in der Goldschmiedekunst und Graphik, wirkten mit ein. In der Durchsichtigkeit der Systeme beruhte die innige Verbindung von Körper- und Schattierungsflächen. Einen dankenswerten Vergleich vom Gesichtspunkte plastischer Ausführung bietet z. B. die Zusammenstellung dreier Zeichnungen ein und desselben Themas aus ungefähr derselben Zeit, ein Rückenakt von Leonardo, Michelangelo und Raffael (Abb. 12, 153, 271). Was Leonardo durch rein diagonale, aber in sorgfältigster Weise zusammengestimmte
Linien mit feinem Ansatz und Auslauf zu erreichen versuchte und auch erreicht hat, die Erfüllung höchster Formenillusion, das arbeitete Michelangelo durch mühevolle Kreuzlagen heraus und fand bei Raffael nur durch wenige, locker abstehende Parallelstriche eine impressionistische Andeutung. Sie glichen schon den von Leonardo gemiedenen Trafeggiamenti aspri.

Schattierungdtypen.
Eine klare und zeitlich aufeinanderfolgende Entwicklung hier geben zu wollen, würde nur ein kümmerlicher
Versuch bleiben, der außerdem noch an dem Mangel genügender Verbindungsglied der für die Frühzeit litte.
Aber immerhin lassen sich von jenen Schattierungsprinzipien aus Zeichnungengruppen zusammenfassen, die bald zeitliche, bald schulmäßige Typen aufweisen, oft auch nur ein Zurückgreifen auf eine frühere Form bedeuten. So führen die wenigen Trecentozeichnungen bis um 1410 herauf entsprechend der Pinselführung ein vertikales Strichgepräge (Abb. 189).
Eine breitere Gruppe charakterisiert sich durch die handsame Diagonalschattierung, deren Ausbildung zum nicht geringen Teil auf der Silberstifttechnik und in einer gewissen Zeit auch auf graphischen Einflüssen beruhte (Abb. 272.).' Gerade die sorgfältig grundierten Blätter erheischten eine sorgfältige Führung der Striche und in Toskana dürfen wir die schrittweise auftretende Vervollkommnung bis zur delikaten Feinheit einer Leonardos Zeichnung konstatieren, die jeder Flächenbewegung folgte und für alle Zeit den höchsten Grad subtiler
Formenempfindung bedeutet. Bei Mantegna und dessen Schülern bildete sich eine klare, kurzstrichelige Diagonalschattierung aus, die uns durch den Mangel jeden Überganges vom Licht zum Schatten jene ganze Gruppe leicht kenntlich macht (Abb. 5, 110) und die auch für die Stecherkunst jener Zeit bis ca. 1500 eine charakteristische Eigentümlichkeit bleibt.

Linienstich / Kreuzlagen.
Die schiefe Strichlage von rechts nach links wurde auch für alle Folgezeit die vorherrschende, bequemste, die sich über alle Schulen verbreitete und bald geschwungen, bald mit der immer allgemeineren Anwendung von Kreuzlagen differenziert erscheint, im Kupferstich (Linienstich) die höchste Vervollkommnung erfährt und von hier aus immer wieder auf die Zeichenschüler vorbildlich zurückwirkt. Es war kein geringes Unternehmen, die Formgestaltung auf dem Wege einer übersichtlichen, glänzenden Linienführung in immer neuen Abarten anzustreben und noch
dazu auf sprödem Metall, das keine Kompromisse kannte.
Man suchte nicht bloß nach Gesichtspunkten von Hell und Dunkel zu schattieren, sondem auch stoffliche Unterschiede auszudrücken. Welche Höhepunkte hierin die französischen Linienstecher durch Kombinationen aller Art erreicht haben, zeigt die Wertschätzung, die heute jenen Künstlern bei aller Verschiedenheit der Kunstanschauungen noch gezollt wird.
Schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind die Kreuzlagen (Gegenschraffierung) in Italien, zunächst bei flüchtigen Zeichnungen, der Weg, die notwendige Schattierungstiefe zu erreichen; was zwei Lagen nicht erzielten, das bewirkten vier. Abgeschlossene Gruppen des italienischen Quattrocento und Cinquecento bilden Peruginos Schule, Bartolommeo, Michelangelo in seiner Jugendzeit, Bandinelli, Passerotti und deren Nachahmer, bei welchen die Tendenz der senkrechten Kreuzlage auftritt (Abb. 12); im Norden Giulio Campi und Tizian in seiner ersten Periode. Bei der großen Masse dagegen erleidet der Neigungswinkel die verschiedensten Grade.

Interessant erscheinen einzelne Fälle, wo man mit der Feder allein dem malerischen Schauen einer neuen Zeit, dem Konturverzicht und der Auflösung der Formenzeichnung beizukommen
suchte, eine Aufgabe, die Baccio Bandinelli in seinen Federakten andeutete, Stefanodella Bella mit Erfolg löste (Abb. 273).^ Das Modell steht im zerstreuten Tageslicht. Die linearen Körpergrenzen werden an den Lichtseiten ganz aufgegeben, an den Schattenseiten nur durch die Kreuzlagen vors getäuscht. Wurde in Kreuzs lagen weder Flächenrichtung noch ein Schattierungssystem beobachtet, so konnte sehr leicht ein chaotisches Modellieren entstehen, eine willkürliche Behandlung, die sich selten und hauptsächlich in Oberitalien konstatieren läßt, wie z. B. bei dem Bolognesen G. M. Chiodarolo (Abb. 274).- Wie ein Zurückgreifen auf die vertikale Feder- und Pinselführung früherer Jahrhunderte ercheint die im 17. Jahrhundert bei einer Gruppe von Graphikern auftauchende Vertikalschatticrung, der auch vereinzelt Maler in ihren Zeichnungen folgen. Als Vorläufer dieser Technik könnte man schon Hans Speeckaert

wird fortgesetzt !!
ff S.576

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